Seiten

01.12.18

Reisebericht: Tschernobyl und Kiew (Ukraine)

Reisebericht: Ein Tagesausflug in die Sperrzone "Tschernobyl"

Im November 2018 machten sich A, R und T auf den Weg in die Ukraine. Ziel war neben der Stadt Kiew vor allem die Sperrzone um das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl.

Nachdem wir im sehr kalten und teilweise schneebedeckten Kiew ankamen, ging es zunächst in unsere Unterkunft, das “Dream House Hostel” im Norden der Stadt. Am Nachmittag besichtigten wir das Kiewer Höhlenkloster, eine große Anlage mit vielen Gebäuden, Türmen, goldenen Kuppeln – und Höhlen. Sie wurden in früheren Zeiten von Mönchen gegraben und dienten als Rückzugsort. Sie sind heute noch zu besichtigen – allerdings nur wenn man vor 16:30 Uhr dort ist. Wenn man um 16:32 Uhr dort ist weil man das bis dahin nicht wusste, bleibt das spannende Höhlensystem leider verschlossen. Schade für uns, und so ging es weiter zum Maidan, dem zentralen Platz in Kiew, der in jüngster Geschichte durch die Demonstrationen gegen die ehemalige Regierung in Kiew bekannt wurde. Auf der Fahrt sahen wir noch die Mutter-Heimat-Statue, die mit insgesamt 102 Metern höchste Frauenskulptur der Welt.

Aufgrund der Temperaturen flüchteten wir am Maidan jedoch recht schnell in ein Restaurant und aßen Georgisch. War sehr lecker, und toll war auch das Preisniveau: es lag ungefähr bei einem Drittel der hiesigen Preise. Am Abend ging es zeitig ins Bett, da wir am nächsten Morgen früh raus mussten für unsere Tour nach Tschernobyl.



Tschernobyl-Exkursion:
Der Kleinbus (Anbieter: chernobyl-tour.com / 101€ p.P., Tour ist in gelb auf der Karte eingezeichnet) wartete pünktlich am eiskalten Morgen nahe des Bahnhofs in Kiew und sammelte uns ein. Wir fuhren gute zwei Stunden zu den beiden Checkpoint "Dytiatky" (30km-Zone) und "Leliv" (10km Zone). Nachdem vom Militär unsere Pässe kontrolliert wurden, öffnete sich die Schranke und wir konnten passieren. Nach wenigen Minuten Fahrt wurden die ersten verfallenen Hütten am Wegesrand sichtbar ("Kopachi"). Der Kleinbus hielt an und – ausgestattet mit einem Geigerzähler – marschierten wir los und erkundeten ein verfallenes Dorf. In den Häusern war alles beschädigt und lag durcheinander – Zeitungen, Flaschen, Zigarettenkippen, Mobiliar, persönliche Gegenstände, alte Atemschutzmasken. Die Türen standen offen und die Scheiben der meisten Fenster waren zerbrochen. Die Dielen der Holzböden waren vielfach herausgerissen, zum einen weil die Menschen in der Zeit nach dem GAU am 26. April 1986 Baumaterial brauchen, und zum anderen, weil Plünderer Wertgegenstände unter dem Boden suchten.



Bei den folgenden Stopps innerhalb der 30 km-Zone besichtigten wir unter anderem noch eine Grundschule und einen Kindergarten. Besonders hier machte sich zwischen Gestellen von Kinderbetten, zerbrochenen Spinden, zerfledderten Schulheften und herumliegenden Puppen eine schauerliche Stimmung breit. Das penetrante Knacken des Geigerzählers tat sein Übriges. Die vorherrschenden Millisievert-Werte waren natürlich erhöht im Vergleich zu hiesigen, aber dennoch gesundheitlich völlig unbedenklich, sofern man sich hier nicht zu lange aufhält, sich von Strahlungs-Hotspots fernhält und keine Gegenstände berührt.










Im Anschluss ging es weiter in die 10 km-Zone und wir befanden uns schon in unmittelbarer Nähe zu Pripjat, der eigens für das Atomkraftwerk Tschernobyl errichteten Stadt mit damals bis zu 50.000 Einwohnern. Hier gab es alles, was für ein unbeschwertes Zusammenleben nötig ist: ein Einkaufszentrum, Cafès, ein Kino, einen Freizeitpark sowie ein Stadion und verschiedene Plätze und Sportmöglichkeiten. All das ist noch erhalten und sollten wir im Laufe der Führung zu Gesicht bekommen.

Zuerst sahen wir allerdings von Weitem die unzähligen Plattenbauten, in welchen die Arbeiter des Atomkraftwerks mit ihren Familien lebten. Sie waren genauso verfallen, grau und leer wie die kleinen Hütten anfangs der Tour.
Wir gingen zwischen den Hochhäusern hindurch und fanden uns zeitweise inmitten von Bäumen und Sträuchern wieder – dass sich die Natur sukzessive ihren Raum wieder zurückholt, wenn der Mensch nicht mehr ist, wird hier eindrucksvoll sichtbar. Doch nicht nur die Flora kommt zurück: in der Gegend um den Reaktor lebt mittlerweile eine große Wolfspopulation. Außerdem Bären, Luchse, sogar Bisons und auch die seltenen Przewalski-Wildpferde leben hier ungestört von Menschen – und scheinbar auch unbeeindruckt von der radioaktiven Strahlung, die besonders in der freien Natur, die nicht gesäubert wurde, deutlich stärker ist als in den Städten und auf den Straßen. Wobei in den ersten Jahren nach dem Reaktorunglück auch bei Tieren erhebliche Missbildungen auftraten. Ein Grund, weswegen sämtliche Wild- und Haustiere um den Reaktor und Pripjat herum erschossen wurden. Der andere lag darin, dass die Tiere in stark verseuchten Gebieten umherwanderten und so die Strahlung verbreiteten.

In Pripjat finden sich allerdings nicht nur Zeugnisse der Expansion der Natur, sondern auch der damaligen Sowjetunion. Pripjat gilt als Musterstadt sowjetischer Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. So wurden beispielsweise Wohngebäude und öffentliche Einrichtungen einer Art jeweils völlig identisch gebaut – als Ausdruck der totalen Gleichheit der Menschen. Gesehen haben wir das am Beispiel eines Schulkomplexes: die verschiedenen Gebäude waren identisch gebaut, unterscheiden konnte man sie nur anhand der durchlaufenden Nummerierung. Ebenfalls interessant: ein neben einem ehemaligen Cafè stehender und aus der Sowjetzeit erhaltener Getränkeautomat war damals mit nur einem einzigen Trinkglas bestückt. Heutzutage sicherlich aus Umweltschutzgründen erstrebenswert, entstand dies damals allerdings aus der Not heraus aufgrund Ressourcenmangels in der ehemaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

Weitere Zeitzeugnisse der aus dem Alltag gerissenen und binnen Stunden evakuierten Stadt waren beispielsweise original erhaltene Propagandaplakate mit Zitaten von Lenin sowie Zeitungen und Fahnen mit abgebildetem Hammer und Sichel. Neben der Morbidität in der Stadt war es also auch ein faszinierendes Fenster in die vergangen Tage der Sowjetunion, die man ansonsten nur noch aus Geschichtsbüchern kennt.

Im ehemaligen Stadtzentrum gab es noch das Einkaufszentrum, das Kino, die Lenin-Straße, den Lenin-Platz, die Atombehörde (des Lenin-Atomkraftwerks) und außerdem Fotos von den Arbeitern, welche in den ersten Stunden und Tagen nach dem Unglück den radioaktiven Schutt aufräumen und Gebäude sowie Straßen säubern mussten. Die aus einfachem Arbeitervolk und Armee-Reservisten rekrutierte Truppe wurde Liquidatoren genannt. Sie dämmten die Folgen für die Zivilgesellschaft unter Einsatz ihres Lebens erheblich ein. Nicht wenige erlagen nach kurzer Zeit der hohen Strahlendosis, die in ihrer Intensität von der Sowjetführung vertuscht wurde. Da die Leichen der Arbeiter teils stark entstellt waren, wurden sie nicht den Hinterbliebenen überstellt, sondern an geheimen Orten vom Militär bestattet. Weil die Männer Helden sind, gehören sie nicht den Familien sondern dem Staat – so die offizielle Verlautbarung. Wahrscheinlicher erscheint jedoch die Tatsache, dass die Sowjets die schlimmen Folgen der bis dahin als fortschrittlich und sicher geltenden Atomkraft vertuschen wollten.

Im Anschluss ging es zu einem ehemaligen Vergnügungspark mit Schiffschaukel, Autoscooter, Karussell und Riesenrad. Hier kam erneut eine bedrückende Stimmung auf, steht dieser Ort doch eigentlich für unbeschwertes Vergnügen und nicht für eine durch radioaktive Verstrahlung bedingte Leere und Verfall.

Zum Abschluss des Gangs durch Pripjat ging es in ein Stadion, in welchem der Rasen im Laufe der Jahre einem Wald gewichen ist und die Holzbänke der Ränge morsch und gebrochen waren.
Nachdem wir wieder an unserem Bus ankamen und uns über die Wärme im Innern desselben freuten, ging es nun direkt zum Atomkraftwerk Tschernobyl ("ChNPP"), wo vor über 30 Jahren das Dach des Reaktorblocks 4 bei einer Übung, die außer Kontrolle geriet, weggesprengt wurde und sich die Radioaktivität über die ganze Welt verteilte.

Seit Ende 2017 befindet sich ein neuer Sarkophag über dem Reaktor, da die alte Schutzkonstruktion, welche damals in aller Eile gebaut wurde, brüchig geworden war. Der neue Sarkophag war bei seiner Fertigstellung das größte bewegliche Bauwerk der Welt. Nach wie vor arbeiten unzählige Menschen in dem alten Atomkraftwerk, auch wenn es mittlerweile komplett abgeschaltet ist.












Nach einem Mittagessen in seltsamer Atmosphäre in der Kantine des Atomkraftwerks ging es weiter in Richtung eines alten russischen Militärsperrgebiets namens Radar Duga-1. Auf dem Weg dorthin sahen wir dann tatsächlich zwei der bereits erwähnten seltenen Przewalski-Wildpferde am Straßenrand grasen. Einige Minuten Fahrt weiter sahen wir – an der Straße mitten im Wald – eine bunt bemalte Bushaltestelle. Unser Guide erklärte das folgendermaßen: Die Militäranlage war offiziell als Jugendferienlager getarnt. Die bunte Bushaltestelle sollte dieses Bild stützen. Tatsächlich hat dort nie ein Bus Kinder abgeholt. Eine weitere Vorsichtsmaßnahme war die kilometerlange, schnurgerade Straße, die scheinbar im Wald endet. Tatsächlich war das Militärareal am Ende der Straße leicht nach rechts versetzt, sodass zum einen Personen, die auf der Straße unterwegs sind, zunächst keine Gebäude sehen können, und zum anderen, damit Fahrzeuge auf der geraden Straße schon von weitem aus gesichtet werden können.

Nach dem GAU wurde das Gelände fluchtartig aufgegeben und war somit schon seit Jahrzehnten verlassen, und so konnten wir unbehelligt anfahren und es ohne Probleme betreten. Das eigentliche Ziel ist hier eine sowjetische Radaranlage: eine gigantische Stahlkonstruktion, bis zu 150 Meter hoch und 700 Meter lang. Sie erhebt sich inmitten der dichten Wälder und lässt einen erahnen, wie leistungsfähig diese Anlage war. Sie konnte feindliche Interkontinentalraketen in einer Entfernung von bis zu 9.000 Kilometern detektieren und so Zeit schaffen für einen atomaren Gegenschlag. Selbst noch in Mitteleuropa war auf bestimmten Radio- und Fernsehfrequenzen ein Klopfgeräusch zu hören, was unter anderem auf diese Anlage zurückzuführen war.

Nachdem wir die riesige Konstruktion bestaunt hatten, gingen wir in die zugehörigen Gebäude daneben. Hier war natürlich ebenfalls alles verfallen und sämtliche Technik, die sich zu Geld machen ließ, wurde ausgeschlachtet oder direkt im Ganzen geplündert. Erhalten war jedoch noch ein Schulungsraum mit Zeichnungen von amerikanischen Raketen und deren technischen Daten, außerdem verschiedene Vorrichtungen zur Einweisung in die Bedienung der Anlage.

Nachdem wir durch das Areal gegangen waren, dämmerte es bereits und es ging es zurück in den Bus. Auf dem Rückweg sahen wir noch das Denkmal, das zu Ehren der Leistungen der Liquidatoren errichtet wurde. Nachdem wir uns an den beiden Sperrpunkten der 10- und der 30 km-Zone jeweils an einem Gerät einem Strahlungstest unterziehen mussten, kamen wir am Abend wieder in Kiew an.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die gesamte Sperrzone - neben einer authentischen Zeitreise zurück in die Sowjetunion - ein gleichermaßen faszinierender und bedrückender Ort ist.
Der ultimative Lost Place und Mahnmal für menschengemachte Gefahren zugleich.